Die Gesichter der Krise
Neben einer großen Menge Onkel und Tanten waren auch einige Cousinen, Cousins und deren Partner/Innen zu Besuch. Die meisten sind Mitte/Ende zwanzig, einige frisch verheiratet und manche haben schon eigene Kinder. Zwei junge Pärchen waren allerdings dabei, über die ich hier ein wenig mehr schreiben will.
Zwei sind studierte Krankenpfleger (in Italien ist die Ausbildung zum Krankenpfleger ein Studienfach), aber sie sehen in ihrer Heimat keine berufliche Zukunft. Jetzt brechen sie in ein paar Wochen nach Stuttgart auf, dort bekommen sie einen sechsmonatigen Deutschkurs bezahlt. Danach, wenn sie genug Deutsch gelernt haben, können sie bleiben und in Deutschland arbeiten. Ihre Uni-Abschlüsse werden anerkannt, es geht also nur um die Sprache, die sie lernen müssen.
Die anderen beiden werden nach London gehen. Er war schon einmal acht Monate dort und hat in einem Restaurant gearbeitet, sie geht jetzt mit ihm zum ersten Mal dorthin. Das neue Zuhause der beiden wird in Brighton sein. Beide haben keine Ausbildung und auch keinen Studiengang absolviert, aber er meinte, in London fände er leicht Arbeit. In Kalabrien hat er schon gekellnert und Erfahrungen mit der Arbeit in Restaurants gesammelt. In seinen ersten acht Monaten dort habe er schnell einen Vertrag bekommen, die Stunden und der Lohn wären geregelt gewesen. Er könne dort auch schnell als Koch arbeiten, weil er die italienische Küche natürlich gut kennt. Ich konnte mich problemlos mit ihm auf Englisch unterhalten, und das, nachdem er nur acht Monate dort gelebt hatte.
Natürlich gehen die vier nicht nur wegen der Eurokrise weg aus Italien... aber sie ist ein wichtiger Grund. Selbt mit einem Uni-Abschluss haben viele junge Leute keine Arbeit, erst recht nicht in Süditalien. Beide Pärchen sind Mitte 20, haben noch keine Kinder und stehen sowohl beruflich als auch familiär noch am Anfang. Dennoch... wäre ich in die Schweiz oder nach Japan gegangen, wenn ich es gemusst hätte? Hätte ich für immer meine Freunde, Verwandten, meine ganze Vergangenheit gegen eine mehr oder weniger ungewisse Zukunft in einem fremden Land, dessen Sprache ich kaum beherrsche, eingetauscht?
In jedem Fall wäre es etwas anderes gewesen, wenn ich gegangen wäre, weil ich sonst keine Perspektive gesehen hätte. Es wäre mir deutlich schwerer gefallen. In jedem Fall hat die Krise jetzt ein Gesicht für mich, genaugenommen vier Gesichter. Alle vier sind voller Hoffnung, aber auch nervös. Zusammen mit diesen vieren kommen noch tausende andere junger Menschen, die ihre Zukunft gestalten wollen und bereit sind, dafür vieles aufzugeben. Ich bin Zeuge des Prozesses geworden, der sich in ganz Südeuropa abspielt, jetzt, hier, vor unseren Augen, und der das Leben einer ganzen Generation von Menschen verändern wird und gleichzeitig auch die der Gesellschaften, die diese Generation verliert oder gewinnt.
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